Wiedergutmachung am Volk der Herero?

Eine Analyse zu den deutschen »Greueltaten« in Deutsch-Südwestafrika 1904/05.

Was war der sogenannte Vernichtungsbefehl des General Lothar von Trotha?

 

von Dr. Claus Nordbruch

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Im Zeitalter der Wiedergutmachungszahlungen und Entschädigungsforderungen an Deutschland wundert es nicht mehr, wenn vermeintliche Ansprüche historisch gesehen immer weiter zurückgedreht werden. Im September 2001 wurde bekannt, daß nunmehr auch das Volk der Herero, genauer gesagt ein nicht uneingeschränkt akzeptierter »Häuptling«, der vorgibt, die Interessen des Hererovolkes zu vertreten, entsprechende Forderungen stellt. Kuaima Riruako beabsichtigt die Deutsche Bank und die Reederei Deutsche Afrika Linie wegen Versklavung, Völkermord und Raub vor einem Bundesgericht in Washington auf zwei Milliarden Dollar Entschädigung zu verklagen. Die Chance, vor einem amerikanischen Gericht Recht zu bekommen, hält er für »möglich, denn wir gehen ja denselben Weg wie die Juden. Der Genozid an unserem Volk war Vorreiter des Holocaust.«[1]. Starker Tobak, der es wert ist, einer Analyse unterzogen zu werden.

Als das Volk der Herero sich im Januar 1904 gegen die deutsche Obrigkeit in Deutsch-Südwestafrika erhob, einem Land, das mit über 820.000 km² eineinhalb mal größer ist als das Deutsche Reich in seinen Grenzen von 1914, dachte man weder in Berlin noch in Windhuk daran, daß sich aus dieser Aufruhr der Krieg der deutschen Kolonialgeschichte entwickeln würde. Man hatte von deutscher Seite her weder das Grundmotiv für den Aufstand noch die Qualität der Hererokrieger richtig eingeschätzt. Es handelte sich eben nicht um das Aufbegehren einiger »Flitzebogenwilder«, die aus einer Laune heraus ihren niederen Gelüsten freien Lauf ließen. Es handelte sich um nichts weniger als um den Existenzkampf eines Volkes. Wie naiv deutscherseits anzunehmen, daß der Aufstand bereits im Februar mit der - wenn auch heroischen - Entsetzung einiger Stationen und Ortschaften so gut wie niedergeschlagen worden sei! Der Militärchronist Hauptmann Maximilian Bayer gibt diese Fehleinschätzung treffend wieder: »Was Wunder, wenn viele von uns sich einbildeten, die Hauptarbeit sei getan, nun käme noch ein rasches Siegen gegen den minderwertigen Gegner, und dann, sagen wir nach einem Vierteljahr, sei alles vorüber und abgetan; dann hänge man die Mörder, stelle den Frieden her und folge wieder heim.«[2] Wie naiv andererseits von den Herero anzunehmen, daß die zur Verfügung stehende militärische Macht des Deutschen Reiches sich mit der Anwesenheit von rund 700 Soldaten der Schutztruppe bereits erschöpft haben würde!

Die deutsche Geschichte ist nach den Worten des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt kein Verbrecheralbum. Richtig! Und dies gilt für die Geschichte Deutsch-Südwestafrikas nicht minder. Geschichtsschreibung, will sie die tatsächlichen Geschehnisse und Ereignisse sowie deren Ursachen und Folgen darlegen, und mit ihren Schlußfolgerungen nicht nur um die Gunst des gerade angesagten Zeitgeists buhlen, kann keine Rücksicht auf einschränkende, den Sachverhalt verfälschende Tabus nehmen. Genau diese Unterschlagungen gehören jedoch oftmals zum festen Bestandteil der gängigen Auseinandersetzung, gerade in der BRD. Ein gewisses Anbiedern hat sich inzwischen bei vielen Zeitgenossen als selbstverständliche Geisteshaltung eingenistet. Wir wollen uns mit einer solchen fragwürdigen Einstellung nicht zufrieden geben. Geschichte kann eben nicht als eine im Dienste vergänglicher Ideologien stehende, abstrakte Vergangenheitsinterpretation abgetan werden. Geschichte ist als unabdingbarer Nährboden zu begreifen, auf dem die Zukunft gedeiht, die heute bereits gesät wird. Wir wollen uns deshalb bemühen, Geschichte gewissermaßen ganzheitlich zu erfassen. Das stolze Volk der Herero hat dies längst begriffen: Sie ehren heute noch ihre Ahnen - auch jene, die zu Lebzeiten in Mißgunst gefallen sind, und erhalten so das eherne Band zwischen Vergangenheit und Zukunft lebendig.

Die Betrachtungsweise, mit der man dem Hererokrieg begegnete und über ihn berichtete, erlebte in den vergangenen 100 Jahren massive Wandlungen. Im Wilhelminischen Zeitalter waren oftmals allzu unkritische Darstellungen üblich. Über die von Herero an Deutschen begangenen Verstümmelungen behauptete beispielsweise der Kriegsteilnehmer Peter Rossa: »Mit den Toten und Verwundeten beschäftigten sich hauptsächlich die Weiber, die ihnen die Geschlechtsteile, Herz usw. vom Körper abtrennten, mit Rindfleisch vermengt kochten und verzehrten, um nach Ansicht der Eingeborenen sich deutschen Mut anzufressen.«[3] Der aufmerksame Leser findet in der Literatur des Kaiserreichs auch eine Fülle von Phantastereien, die als Tatsachen oder Selbsterlebnisse suggeriert werden: »Mich ängstigten immer seine Erzählungen von wilden Tieren, welche der Werft nächtliche Besuche abstatteten. Erst war es ein Tiger, der sich einige Male Lämmer holte [...]«[4] Selbst einem erfahrenen und an den Kämpfen maßgeblich beteiligten Offizier, Oberst Berthold von Deimling, widerfuhr ein derartiger Schnitzer, als er während einer Rede 1906 allen Ernstes behauptete: »Löwen und Tiger gibt es nur noch in der Kalahari.«[5] Ein anderer Offizier berichtet in seinen »Erinnerungen« über mit Bajonetten aufgespießte, »fast zwei Meter« lange Puffottern und verkauft mehrfach seinen Lesern die Python als »die gefährlichste Giftschlange in Deutsch-Südwestafrika«![6] Über all diesen Mumpitz könnte man nun lächelnd hinwegsehen, wenn nicht auch vielfach bei historischen Ereignissen derartiger Unsinn verzapft worden und in Bücher mit teilweise enormer Auflagestärke als »Wahrheit« eingegangen wäre.

Die Publikationen über die deutsche Kolonialgeschichte in der BRD während der fünfziger und frühen sechziger Jahre hatten dagegen oft einen eher nostalgischen Klang. Mit Anbruch der siebziger Jahre mutierte die Geschichtsschreibung mehr und mehr zu »progressiveren« Formen, die sich im Laufe der achtziger und neunziger Jahre durch die sogenannte politische Korrektheit noch verstärkten und heute tonangebend sind. Wie war dieser Wandel möglich?

Die Überbleibsel des Archivs des ehemaligen Reichskolonialamtes lagen seit dem Ersten Weltkrieg in Potsdam und waren nach 1945 für deutsche Wissenschaftler zunächst überhaupt nicht zugänglich. Ab 1955/56 wurden sie wenigstens für Historiker der DDR geöffnet, ohne daß diese allerdings erschöpfende Forschungsarbeit betrieben hätten. Ihre Ergebnisse blieben weit hinter den Erwartungen zurück, die man angesichts der Fülle des auszuwertenden Materials hätte erwarten dürfen. Die ehemalige - im übrigen links, will sagen progressiv eingestellte - Nationalarchivarin in Windhuk, Frau Brigitte Lau, spricht diesen Zeitgeschichtlern denn auch mit Recht Kenntnisse über das Land selbst ab. Keiner von ihnen hatte sich je mit den geographischen, meteorologischen und demographischen Verhältnissen Südwestafrikas vertraut gemacht[7], geschweige denn menschliche Beziehungen im Lande aufgebaut. Die meisten hatten Südwest noch nicht einmal besucht.

Es wäre allerdings ein naives Unterfangen, würde man sich ernsthaft zu der Behauptung versteifen, die Leistungen der westdeutschen Historiker seien erschöpfender gewesen als die Ergebnisse ihrer mitteldeutschen Kollegen: Die BRD-Historiker, denen der Zugang zum ehemaligen Reichsarchiv verwehrt wurde, machten es sich meist recht bequem und übernahmen oft ohne vorherige Prüfung die im Sinne der SED-Ideologie ausgerichteten Thesen ihrer Kollegen aus der DDR. Auf diese Weise konnten die marxistischen oder »fortschrittlichen« - jedenfalls immer antideutschen! - Ansichten auch Zugang in westdeutsche Schul- und Sachbücher finden.

Der einflußreichste jener Geschichtswissenschaftler aus der DDR war Horst Drechsler, der Mitte der 1950er Jahre begann, die Akten des ehemaligen Deutschen Reichskolonialamtes auszuwerten und nach staatlich gewünschter Vorgabe zu interpretieren. Originalton Drechsler: »Wenn die nationale Befreiungsbewegung in den kolonialunterdrückten Ländern sowie der Zusammenbruch des imperialistischen Kolonialsystems auf dem XXII. Parteitag der KPdSU als bedeutendstes welthistorisches Ereignis nach der Sozialistischen Oktoberrevolution und der Entstehung des sozialistischen Weltsystems eingeschätzt worden sind, legt diese Einschätzung den fortschrittlichen Historikern die Verpflichtung auf, sich nicht nur mit der nationalen Befreiungsbewegung und dem Zusammenbruch des imperialistischen Kolonialsystems in der zweiten und dritten Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus zu beschäftigen, sondern den verhaßten Kolonialismus in allen seinen Spielarten zu entlarven. So haben die marxistischen Historiker der Deutschen Demokratischen Republik in den letzten Jahren eine Reihe von Arbeiten vorgelegt, in denen sie an Hand der Akten des Reichskolonialamtes die Kolonialpolitik des deutschen Imperialismus vor dem ersten Weltkrieg analysierten. Damit leisteten sie zugleich den Afrikanern eine besondere Form der Hilfe, indem sie ihnen bei der Herausbildung ihres nationalen Geschichtsbildes halfen.«[8] Drechsler veröffentlichte zwei »akademische« Schriften zur Geschichte Deutsch-Südwestafrikas. Bezeichnenderweise wurden diese Publikationen immer wieder, auch in Westeuropa, als Standardwerke suggeriert. Diese Art der Leichtfertigkeit hat wesentlich zur heutigen Einseitigkeit über die deutsche Kolonialgeschichte beigetragen.

Helga und Ludwig Helbigs Schrift Mythos Deutsch-Südwest beispielsweise ist getränkt von inflationär gebrauchten und abgedroschenen Schlagworten wie Völkermord, Faschismus, deutsche Gewaltherrschaft, Ausrottungspolitik und natürlich Holocaust. Wolfgang Mayer, einem »Redakteur einer großen Tageszeitung und Mitarbeiter einer historischen Zeitschrift«, Franz Metzger, »Chefredakteur einer historischen Zeitschrift« und Jürgen Wilhelmi »Verfasser zahlreicher Artikel und Beiträge zur Geschichte, von Rezensionen und wissenschaftlichen Arbeiten« kann man zu geistigen Ergüssen wie diesen nur gratulieren: »Für von Trotha waren die Aufständischen nichts als eine Horde wildgewordener ‘Nigger’, deren Rebellion nur durch die Vernichtung angemessen bestraft werden konnte.«[9] Ein wirklich überzeugender Beleg sachlicher Publizistik - vom Wert der Wissenschaftlichkeit ganz zu schweigen. Da wirkt es dann schon nebensächlich, daß die Herren Wissenschaftler und Redakteure noch nicht einmal den Namen des kriegführenden Oberhäuptlings der Herero richtig schreiben können. Wenn wundert es bei soviel geistiger Größe noch, daß es selbstredend auch möglich ist, mit einer Dissertation The Herrenvolk Mentality in German South West Africa 1884-1914 zu promovieren!? Wir wollen es uns ersparen, auf weitere Meisterleistungen fortschrittlicher Wissenschaftlichkeit hinzuweisen - wir werden ohnehin von ihnen täglich in den Massenmedien berieselt.

Um uns ein objektives Bild über die damaligen Geschehnisse zu verschaffen, wollen wir versuchen beide Parteien, also Eingeborene und Deutsche zu hören - sofern dies anhand der erhalten gebliebenen Dokumente überhaupt noch möglich ist: Die englisch-südafrikanischen Invasoren vernichteten zwischen 1915 und 1919 Unmengen historischer Dokumente. Die verhältnismäßig wenigen, die nach Deutschland gerettet werden konnten, fielen zum größten Teil ebenfalls der Vernichtung anheim, als 1945 das Reichsarchiv (Akten des Generalstabes) in Potsdam durch die anglo-amerikanische Luftwaffe bombardiert wurde und in Flammen aufging. Leider sind auch viele Privatsammlungen während des Zweiten Weltkriegs, wie z.B. das Archiv im Schloß Dhyrenfurth bei Breslau, zerstört worden. Heute gibt es auch in Südwest für diese unersetzlichen Dokumente keinen Ersatz. Das ist jedoch nicht die einzige Schwierigkeit, mit der wir uns konfrontiert sehen: Leider findet es sich in der Sekundärliteratur (auch und gerade bei solchen Büchern, die als »Standardwerke« gelten) immer wieder, daß Zitate - häufig sogar gravierend! - falsch wiedergegeben werden. Es sollte deshalb wenn irgend möglich versucht werden, die Originalquellen einzusehen.

Dem Unverständnis und Unwissen vieler Deutscher zur Zeit des Wilhelminischen Kaiserreiches nicht unähnlich, macht man sich selbstverständlich auch in der vom Spaß- und Schuldsyndrom befallenen G’sellschaft der BRD keine Vorstellungen über die Strapazen der jungen, meist unerfahrenen Soldaten der Kaiserlichen Schutztruppe und ihrer Kameraden von der Marineinfanterie. Man hat im allgemeinen keinen blassen Schimmer von den übermenschlichen Leistungen dieser Männer. Aber auch das unermeßliche Leid, das über die Herero gekommen war, wird in der gängigen Literatur meist nicht unter dem menschlichen Aspekt behandelt, was man eigentlich erwarten sollte, sondern wird lediglich aus der Position der Ankläger gegen Deutschland dargestellt. Es geht vielen Publizisten denn auch weniger um eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Herero, als vielmehr darum, dieses gegen eine andere Nation, die deutsche nämlich, zu mißbrauchen. Angewandt wird diesbezüglich eine ebenso einfache wie falsche Faustregel: hier die Eingeborenen in der Rolle der unschuldigen Opfer, dort die Deutschen als ewige Aggressoren und Unterdrücker. In der »Bewältigungsliteratur« der BRD wird bezüglich des Hereroaufstandes und der Niederschlagung desselben denn auch mit erhobenem Zeigefinger auf ein selbstredend »dunkles Kapitel« deutscher Kolonialgeschichte verwiesen. Mit dieser schon obligatorischen Betroffenheitshaltung wird jedoch übersehen, daß diese zwar mit den Anforderungen des augenblicklichen Zeitgeists konform gehen mag und auch politisch korrekt sein dürfte, aber mit historischer Wahrhaftigkeit und einem ausgeprägten Geschichtsbewußtsein nichts gemein hat. Die zur Norm gewordene einseitige Schuldzuweisung ist reine Schwarzweißmalerei.

Wenden wir uns nun konkret den Anschuldigungen zu. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat gerade General Lothar v. Trothas Aufruf an das Volk der Herero vom 2. Oktober 1904 immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen geführt. Im günstigsten Falle hieß es, daß es sich hierbei um einen Schießbefehl gehandelt habe. Meist war die Ausgangsposition jedoch, daß dieser Aufruf ein Befehl zur Völkervernichtung gewesen und damit der Grundtenor der politisch-militärischen Intention v. Trothas bewiesen sei: Er »steckte sich zum Ziel, die Herero auszurotten.« Und deshalb stehe selbstredend fest: »Die Herero wurden die Opfer eines verbrecherischen Staates, der jene beseitigte, die seinen wirtschaftlichen Interessen im Wege standen.«[10] Ob explizit darauf hingewiesen oder lediglich unbewußt miteingearbeitet, die meisten dieser voreiligen bzw. diffamierenden Urteile fußen erstens auf den Behauptungen der englischen Kriegspropaganda unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg und zweitens auf einseitigen Darstellungen oft marxistisch-leninistischer Historiker und Publizisten. Diese meist unsachlichen, teilweise sogar volkverhetzenden Darlegungen und Mutmaßungen, wurden von vielen Verfassern der gängigen Literatur teils aus Leichtsinnigkeit, teils weil sie in die eigene Ideologie passen, unkritisch übernommen. Vor allem für politisch links stehende Autoren ist dieser spezielle Abschnitt der deutschen Kolonialgeschichte längst zur Gewißheit, zur »historischen Tatsache« zementiert. An der Universität Freiburg beispielsweise fand im Sommersemester ’99 ein Seminar mit dem bezeichnenden Namen Deutscher Kolonialimperialismus und koloniale Kriegsführung statt. Hier wurde allen Ernstes die Auffassung vertreten, daß als »markantestes Beispiel für eine erstmals praktizierte Vernichtungsstrategie [...] die Niederschlagung des Herero-Aufstandes in Südwestafrika (1904-7)« gelte.

Diese Unterstellung ist um so bezeichnender als bereits vor 40 Jahren die damalige Präsidentin der südwestafrikanischen Kunstvereinigung Olga Levinson in der Cape Times und daraufhin auch in der Windhuker Allgemeinen Zeitung zunächst meinte: »Mit dem Auftrag, die Herero die volle Macht der Deutschen fühlen zu lassen und ihren Widerstand für alle Zeiten zu brechen, setzte er [General v. Trotha, Anm. d. Verf., C. N.] seine bekannte Ausrottungspolitik durch, wonach jeder Herero-Mann, jede Frau und jedes Kind unbarmherzig zu töten war.«[11] Diese ebenso unsachliche wie demagogische Behauptung rief einen ungeheuren und zurechtweisenden Proteststurm in den Leserbriefspalten südafrikanischer und südwestafrikanischer Zeitungen hervor. Frau Levinson hatte aber, im Gegensatz zu den meisten fragwürdigen Publizisten der Gegenwart, genug Mumm und Anstand, sich mit den Gegendarstellungen auseinanderzusetzen und ihre Meinung zu revidieren. Sie bekannte bald, daß sie den »Vernichtungsbefehl« als »nackte Tatsache der Geschichte« betrachtet und es niemals für möglich gehalten habe, daß eine offizielle Quelle, nämlich das sogenannte Blaubuch, »unzuverlässig sei«. Frau Levinson kam schließlich zu der Überzeugung, »daß der Befehl nur für die bewaffneten Herero galt und daß alle Anschuldigungen, die das Gegenteil behaupten, nicht richtig sind. Je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr werde ich mir bewußt, daß solch ein Befehl niemals von einem Offizier der kaiserlichen Armee erlassen werden konnte.« Konsequenterweise endete sie ihr Eingeständnis damit, »daß ich in meinem Buch ein für allemal die alten Anschuldigungen, die bedauerlicherweise von den meisten Südafrikanern und im Ausland geglaubt werden, ausmerzen werde.«[12]

Bevor wir uns nun mit der »Ausrottungspolitik« v. Trothas auseinandersetzen, möchten wir zuvor an das große Wort des bedeutenden deutschen Gelehrten und Staatsmannes Wilhelm von Humboldt erinnern, der erkannt hatte:

»Der Historiker muß sich in das Innere der Personen und Epochen,

mit denen er zu tun hat, hineinversetzen,

wenn er mehr als eine zusammenhanglose Aufzählung äußerer Ereignisse bieten will.«

Handeln wir nach dieser Maxime, erkennen wir recht bald, daß dem General »Völkermordabsichten« zu unterstellen, eher dem gegen ihn gerichteten konformistischen Kesseltreiben entspringen dürfte als daß sie den historischen Tatsachen entsprechen.

Wenig bekannt ist, daß bis heute eine authentische Textfassung des besagten Aufrufes gar nicht vorliegt. Das Original gilt als verschollen! Die bislang bekannten Versionen unterscheiden sich teilweise gravierend voneinander. Der Text findet sich bezeichnenderweise in keiner offiziellen oder halbamtlichen Publikation. Weder im Generalstabswerk noch bei Bayer noch in den Wanderungen des v. Trotha abgeneigten Major v. Estorff findet die »Proklamation« eine Erwähnung. Die erste Fassung des Aufrufs wurde erst 1905 vom Herausgeber der Windhuker Nachrichten, Conrad Rust, ohne Quellennachweis veröffentlicht und Ende des gleichen Jahres im sozialdemokratischen Vorwärts zitiert. Um Unterstellungen gleich vorzubeugen: Wir bezweifeln nicht, daß General v. Trotha einen Aufruf bezüglich der Verfahrensweise mit bewaffneten Hererobanden erlassen hat. Aber die gesamten Umstände sind sehr merkwürdig. Lediglich eine Abschrift, deren Herkunft unbekannt ist, kann beim Nationalarchiv in Windhuk eingesehen werden. Sie lautet:

 

»Ich, der große General der deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero.

Die Herero sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten, und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. Ich sage dem Volk: Jeder, der einen Kapitän abliefert, erhält 1000 Mark, wer Samuel bringt erhält 5000 Mark. Das Volk der Herero muß jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, erschossen, ich nehme keine Weiber, Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auch auf sie schießen.

Dies sind meine Worte an das Volk der Herero.

Der große General des mächtigen deutschen Kaisers.«

 

Die Intention dieser ohne Zweifel in großspurigen Worten verfaßten Erklärung ist, wie wir im folgenden darlegen werden, erstrangig psychologisch begründet. Hierauf läßt schon der pathetische Wortgebrauch schließen. Es galt, die noch umherziehenden Hererobanden abzuschrecken und von den Farmen fernzuhalten, oder wie es die amerikanische Historikern Karla Poewe kurz und bündig auf den Nenner bringt: »The intent was to keep small guerrilla bands away from German troops.«[13] Darauf weist auch das theatralisch anmutende Gehabe der deutschen Militärgewalt hin: Zwei kriegsgerichtlich zum Tode verurteilte Herero wurden in Gegenwart von etwa 30 Gefangenen gehängt. Nach der Hinrichtung wurde den anwesenden Herero der Aufruf in ihrer Sprache vorgelesen. Daraufhin wurde ihnen die Freiheit geschenkt und damit garantiert, daß der Inhalt der Erklärung auch die entlegensten Verstecke der Herero erreichte.

In der Deutschen Zeitung rechtfertigte v. Trotha seine Kriegführung mit den Worten: »Die Stämme Afrikas führen untereinander so lange Krieg, bis einer zerstört am Boden liegt. Dies mußte auch hier einmal geschehen. Daß ein Krieg in Afrika sich nicht nach den Gesetzen der Genfer Konvention führen läßt, ist selbstverständlich. Die Zurückweisung der Weiber von den Wasserstellen der Kalahari fiel mir sehr schwer. Ich stand aber vor einer Katastrophe für meine Truppe. Wenn ich die kleineren vorhandenen Wasserstellen den Weibern zugänglich machte, so gewärtigte ich in Afrika ein Beresina zu erleben.«[14] Womit General v. Trotha auf die vernichtende Flußüberquerung der Grande Armée Napoleons beim Rückzug von Moskau im November 1812 anspielte. Auch die Erwähnung der Genfer Konvention ist angesichts der Verwendung von Dum-Dum- und anderen verbotenen Geschossen sowie angesichts der völkerrechtswidrigen Behandlung deutscher Verwundeter durch die Herero berechtigt und aufschlußreich. Es ergibt sich unter dem Strich, daß General v. Trotha unter den genannten Umständen den Krieg so schnell, aber auch so gründlich wie möglich, beendet wissen wollte, galt es doch ein nochmaliges Erheben des Feindes für alle Zukunft und zum Wohle einer friedlichen Entwicklung des Landes ein für allemal auszuschalten.

Wenig bekannt ist, daß dem Aufruf umgehend ein Truppenbefehl folgte, der den Propagandazweck bzw. die psychologische Absicht dieser auf den ersten Blick durchaus barbarisch anmutenden Erklärung deutlich macht. Der im Gegensatz zum Aufruf den Herero nicht bekannt gemachte Zusatzbefehl lautet:

 

»Dieser Erlaß ist bei den Appells den Truppen mitzuteilen mit dem Hinzufügen, daß auch der Truppe, die einen der Kapitäne fängt, die entsprechende Belohnung zu teil wird, und daß das Schießen auf Weiber und Kinder so zu verstehen ist, daß über sie hinweggeschossen wird, um sie zum Laufen zu zwingen. Ich nehme mit Bestimmtheit an, daß dieser Erlaß dazu führen wird, keine männlichen Gefangenen mehr zu machen, aber nicht zu Grausamkeiten gegen Weiber und Kinder ausartet. Diese werden schon fortlaufen, wenn zweimal über sie hinweggeschossen wird. Die Truppe wird sich des guten Rufes der Deutschen Soldaten bewußt bleiben.

Der Kommandeur

gez. v. Trotha

Generalleutnant«[15]

 

Es geht aus dem Zusatzbefehl zweifelsfrei hervor, daß General v. Trotha das Töten von Frauen und Kindern weder beabsichtigt noch gar befohlen hatte, sondern im Gegenteil eindeutig verboten hatte. Etwas Anderes wäre auch nicht mit seiner preußischen Offiziersausbildung in Einklang zu bringen gewesen. Ein Schießbefehl gegen Frauen und Kinder widersprach dem Ehrenkodex deutscher Offiziere, ja überhaupt den traditionellen Richtlinien deutscher Soldaten im Kriegseinsatz. In einem Leserbrief in der Windhuker Allgemeinen Zeitung vom 28. Juli 1961 schrieb der ehemalige unter Estorff dienende Schutztruppenangehörige R. Sarnow aus Tsumeb »daß jeder Herero-Mann, Frau oder Kind, die sich ergaben, auf die Missionsstationen gesandt und dort verpflegt wurden. [...] Wir deutschen Soldaten waren keine disziplinlose Soldateska, die sinnlos mordeten, sondern eine absolut disziplinierte Truppe, die keinem unbewaffneten Herero etwas zu Leide tat. Das ist eine ganz gemeine Entstellung! Jeder Soldat, der sich eines solchen Mordes schuldig gemacht hätte, wäre unweigerlich vor ein Kriegsgericht gestellt und schwer bestraft worden.« Marxisten, wie der bereits zu Anfang zitierte Horst Drechsler, wissen es freilich besser: »Der Unterschied zwischen Männern einerseits und Frauen und Kindern andererseits wurde aber in Wirklichkeit gar nicht gemacht. Alle Herero, gleichgültig ob Männer, Frauen oder Kinder, wurden getötet, wenn sie deutschen Soldaten in die Hände fielen.«[16] Keine Frage, daß derartige Behauptungen vor allem in »fortschrittlichen« Medien, als Tatsachen suggeriert, immer wieder aufgetischt werden: »Massenerschießungen von Gefangenen und Niedermetzelung verwundeter Hererokrieger waren an der Tagesordnung. Unterschiedslos wurden auch Frauen und Kinder bei den Kämpfen niedergemacht, in manchen Fällen sogar lebendig verbrannt.«[17] Geschichtskenner fühlen sich hier an die propagandistischen Horrorgeschichten des Ersten Weltkrieges (abgehackte Kinderhände) und des Irak-Kuweit-Krieges (aus Brutkästen gerissene Säuglinge) erinnert. Der Wahrheitsgehalt dieser Geschichten stimmt mit der story von aus deutscher Hand abgeschlachteten Herero überein.

In der Praxis sah es so aus, daß von der Schußwaffe tatsächlich nur bei bewaffneten Männern des Hererovolkes Gebrauch gemacht wurde. Darüber hinaus wurden versprengte Teile von Hererobanden keineswegs »niedergemäht«, sondern als Gefangene mitgenommen. Die allgemeine humane Grundeinstellung der deutschen Soldaten unter denen diese vor Hunger, Durst und Ermattung erschöpften Menschen abgeführt wurden - aber auch die Tragik eines solchen Gefangenentransportes -, schildert Gefreiter Paul Harrland, der Ende Januar 1905 einen solchen von Otjimbinde nach Okahandja begleitete: »Hier zeigte sich wieder der durchweg gutmütige Zug der deutschen Soldaten, die den armen Teufeln alles Entbehrliche gaben - mit ihnen teilten. [...] Hunger und abermals Hunger! Bedauert haben wir die Kinder, die für alles nichts können. Nur den stolzen ›Großmännern‹ war keine Not anzusehen. Der eine war mit einem sehr guten schwarzen Gesellschaftsrock bekleidet, während die anderen tadellos gewaschene Truppenanzüge anhatten. Bei unserem Weitermarsch verschmähten es die stolzen Großmänner nicht, bei uns um Kost zu betteln, die ihnen auch bereitwilligst gegeben wurde. Unter allen erregte ein junges, bis zum Skelett abgemagertes Weib das Mitleid aller Kameraden. Mit kindlicher Liebe führte sie ihre alte, erblindete Mutter an einem Ochsenriemen nach.«[18] Trotz der deutschen Fürsorge erreichten von den ursprünglich 150 Gefangenen dieses Transportes freilich nur 90 Okahandja - womit sicherlich ein allgemeiner Durchschnittswert der hohen Verlustraten angedeutet werden kann. Nicht zuletzt spricht aber gerade das Engagement der deutschen Transportmannschaften, eine den Umständen entsprechend möglichst große Anzahl gefangener Herero heil in die Aufnahmelager zu bringen, gegen die These von der »Vernichtung« von Eingeborenen.

Kein geringerer als Oberst Deimling, welcher sich als General bereits 1918 der die Weimarer Republik verteidigenden Deutschen Demokratischen Partei (DDP) angeschlossen hatte, 1924 den der SPD nahestehenden Kampfverband Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold mitgestaltete und sich später zum Pazifismus bekannte, bestätigt, daß trotz der bestialischen Roheit, die die Herero den deutschen Gefangenen und Verwundeten gegenüber an den Tag gelegt hatten, insgesamt Tausende Herero gefangengenommen und menschlich behandelt wurden: »Unschuldige, wehrlose Gefangene und Weiber sind stets human und mit größter Geduld behandelt worden; ich habe oft gesehen, wie unsre Leute ihr bißchen Wasser und ihr bißchen Kost mit den Gefangenen geteilt haben.«[19]

In der Primärliteratur stoßen wir immer wieder auf Belege, daß deutsche Soldaten gerade Kindern gegenüber eine ausgeprägte menschliche Einstellung praktiziert hatten. So berichtet Hauptmann Bayer von einem eindrucksvollen Beispiel, das sich während der Verfolgung der Herero ereignete und hier stellvertretend für die vielen artgleichen Verhaltensmaßnahmen stehen soll: »An einem Wasserloch saß ein etwa 4 Jahre altes Hererokind und sah uns mit weiten, erstaunten Augen an. Wir mußten hier einen Augenblick halten; unsere Schutztruppler umstanden das Baby neugierig und überlegten, wie man es vor dem sicheren Dursttode retten könne. Schließlich meinte einer, - es war ein Badener, ein Landsmann von mir -: ›Da müsse mer dem Kindle halt e Mutter suche.‹ Schnell liefen ein paar Reiter in die Büsche und brachten bald triumphierend und fröhlich lachend eine alte Hererofrau an, ein verhutzeltes, verschrumpeltes Weibchen, dem sie das Kind auf den Schoß setzten. Dann holten sie eine Milchziege herbei, und ein Sachverständiger begann sie zu melken. Das schlappe Euter gab etwa einen Viertel Becher voll; den gaben sie dem Kinde. Sie banden der Ziege einen Strick um den Hals und steckten das Ende des Stricks dem Hereroweib in die Hand. Es war ein hübscher Anblick: Die alte, über das ganze Gesicht lachende Hererofrau, das Kind und die Milchziege; davor unsere Soldaten, die sich über das friedliche Bild freuten.«[20]

Bei einer nüchternen Beurteilung des Aufrufs, und dies wollen wir im Sinne Humboldts ja tun, müssen nicht zuletzt v. Trothas Beweggründe für die Ausgabe dieses Befehls und seiner Wortwahl Berücksichtigung finden:

·        Tatsache ist, daß Anfang Oktober die Lage der deutschen Schutztruppe bedrohliche, ja geradezu katastrophale Ausmaße erreicht hatte: Seit der Schlacht am Waterberg nahmen durch eklatanten Nahrungs- und Wassermangel verursachte gefährliche Erkrankungen, wie z.B. Typhus, Ruhr, Herzmuskelschwäche, akute Magen- und Darminfektionen, unter den Angehörigen der Schutztruppe explosionsartig zu.[21] Darüber hinaus starben zu Hunderten Pferde, Maultiere und Zugochsen, so daß man mit weiteren lebensbedrohlichen Transportengpässen konfrontiert wurde. Die so dringend benötigten Verpflegungstransporte blieben wegen Erschöpfung der Tiere oft tagelang liegen. Die direkte Folge war ein akuter Mangel an Nahrung, Wasser und Medikamenten. Dieser Notstand verursachte ein erneutes Ansteigen der Infektionsrate.[22] Am Ende büßten die deutschen Truppen mehr Menschenleben durch Krankheiten ein als durch Einwirkung des Feindes!

·        General von Trotha hatte mit dem Ausgang der Schlacht am Waterberg sein Kriegsziel nicht erreicht. Die Behauptung, daß der Aufruf als ein »Eingeständnis des Mißerfolges« und »als ohnmächtige Reaktion des deutschen Befehlshabers im Hinblick auf diese Lage angesehen werden«[23] könne, wird nicht völlig zu Unrecht gemacht. Tatsächlich entspricht der pathetische Wortgebrauch des Aufrufes aber der Ausdrucksweise jener Tage. In der sogenannten Hunnenrede[24] des Kaisers anläßlich der Verabschiedung des deutschen China-Korps am 27. Juli 1900 in Bremerhaven hieß es u.a.: »Eine große Aufgabe harrt eurer: ihr sollt das schwere Unrecht, das geschehen ist, sühnen. Die Chinesen haben das Völkerrecht umgeworfen, sie haben in einer in der Weltgeschichte nicht erhörten Weise der Heiligkeit des Gesandten, den Pflichten des Gastrechts Hohn gesprochen. [...] Ihr wißt es wohl, ihr sollt fechten gegen einen verschlagenen, tapferen, gut bewaffneten, grausamen Feind. Kommt ihr an ihn, so wißt: Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht. Führt eure Waffen so, daß auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen scheel anzusehen.«

·        Auch ist ein weiterer psychologischer Beweggrund, der zu dem Aufruf führte, nicht zu übersehen: Die Herero trugen nicht wie Kombattanten in Europa Uniformen, sondern traten im »Räuberzivil« auf. Man begegnete ihnen überall, im dichten Buschfeld ebenso wie auf Farmen, tagsüber und nachts - es war äußerlich nicht erkennbar, ob es sich um einen friedlichen Menschen handelte oder um einen Partisan. Es gab immer wieder Patrouillen, denen dieser Umstand zum tödlichen Verhängnis wurde. Folglich ist die Proklamation Trothas auch in diesem Sinne als eine Art Schutz gegenüber der eigenen Truppe zu verstehen.[25]

Der deutsche Gymnasiallehrer für Geschichte, Gunter Spraul, hat die psychologisch-stigmatisierende Bedeutung der Wortwahl im Zusammenhang mit Trothas Proklamation durchaus richtig erkannt: »›Völkermord‹«, so Spraul, »gehört seit dem Zweiten Weltkrieg zu den Begriffen der deutschen historisch-politischen Sprache, die besondere Emotionen und Assoziationen auslösen. Der Vorstellungsgehalt [in der BRD, Anm. d. Verf. C. N.] ist so sehr von den Praktiken des Nationalsozialismus bestimmt, daß jeder Vergleich damit in Konkurrenz oder in Kollision geraten muß. Generaloberst v. Schlieffen ›von Deutschland aus den Völkermord leiten‹ oder General von Trotha einen ›Genozidbefehl‹ erteilen zu lassen, führt zwangsläufig zur Annahme, es mit Schreibtischmördern oder Mördern ›an der Grube oder der Rampe‹ zu tun gehabt zu haben.«[26] Damit wird die Auseinandersetzung aber geschickt in eine bestimmte Ecke gezwängt, aus der heraus eine frei (im Sinne von sachlich und zwanglos) zu führende Diskussion nicht mehr möglich ist und von vornherein abgewürgt wird. So ist schon allein der Hinweis »relativierend«, daß vor 100 Jahren die Bedeutung des Wortes »Vernichtung« eine gänzlich andere war als heute, wo er dem Begriff der Auslöschung oder der Ausrottung gleichkommt.[27]

Damals verstand man unter »Vernichtung« die Ausschaltung, die Zerschlagung, die Neutralisierung des Feindes oder auch, als Eigenschaftswort gebraucht, dem Feind eine verheerende Niederlage zu bereiten und zwar dergestalt, daß die Widerstandskraft des Feindes gebrochen wurde und sich dieser nicht mehr zu weiterem Kampf stellen konnte. In diesem Sinne kommentiert auch das Generalstabswerk die Flucht der Herero in das Sandfeld: »Wie die kommenden Ereignisse indessen lehren sollten, wurde gerade dieser fluchtartige Abzug der Hereros nach Südosten in die zu dieser Zeit wasserlose Omaheke ihr Verhängnis, und die Natur ihres Landes sollte ihnen ein vernichtenderes Schicksal bereiten, als es je die deutschen Waffen selbst durch eine noch so blutige und verlustreiche Schlacht hätten tun können.«[28]

Oftmals wird in der Beurteilung von Trothas Aufruf übersehen, daß er am 22. April 1905 den Hottentotten gegenüber eine ganz ähnliche Erklärung erlassen hatte, aus der das bereits eingetroffene »vernichtende« Schicksal der Herero klar hervorgeht. Hier heißt es unter anderem.: »Ich frage Euch, wo ist heute das Volk der Herero, wo sind heute seine Häuptlinge? Samuel Maharero, der einst Tausende von Rindern sein eigen nannte, ist, gehetzt wie ein wildes Tier, über die englische Grenze gelaufen; er ist so arm geworden wie der ärmste Feldherero und besitzt nichts mehr. Ebenso ist es den anderen Großleuten, von denen die meisten das Leben verloren haben, und dem ganzen Volk der Herero ergangen, das teils im Sandfeld verhungert und verdurstet, teils von deutschen Reitern getötet, teils von den Ovambo gemordet ist. Nicht anders wird es dem Volk der Hottentotten ergehen, wenn es sich nicht freiwillig stellt und seine Waffen abgibt.«[29] Wir können deshalb Gert Sudholt in seinem Urteil folgen, wenn er feststellt: »Wenn in Trothas Operationsbefehl von ›vernichten‹ die Rede ist, so ist unzweifelhaft damit die Brechung der militärischen Widerstandskraft der Herero gemeint. Aufnahmelager für 8.000 Gefangene waren vorbereitet worden. Die Absicht war, den Gegner durch Gefangennahme seiner Krieger abzuschalten: das war ›Vernichtung‹ in der europäischen Generalstabssprache jener Zeit. Nach Moltkes Strategie wie in der Schlacht von Sedan 1870 (an diesem Krieg hatte Trotha teilgenommen) sollten die Herero besiegt werden.«[30]

Nichts anderes geht aus Trothas Strategie hervor: »Mein anfänglich gefaßter und immer festgehaltener Plan für die Operationen war der, die Hereromasse, die am Waterberg saß, zu umklammern, und die Masse durch einen gleichzeitig geführten Schlag zu vernichten, dann einzelne Stationen zu bilden, um die abströmenden Teile zu suchen und zu entwaffnen, durch Preise auf die Köpfe der Capitäne diese später in meine Gewalt zu bringen, und zum Schluß mit dem Tod zu bestrafen.«[31] Die Herero sollten also nicht »ausgerottet«, sondern im Gegenteil, nach ihrer Entwaffnung gefangengenommen und befriedet werden. Die Vorsorge für die Aufnahme dieser Menschenmassen war bereits durch den Bau eines gewaltigen, aus Dornbusch und Stacheldraht gesicherten, für viele tausend Gefangene berechneten Kraals bei Okahandja getroffen worden.[32]

Wir können nach der oben angeführten Analyse zu keinem anderen Ergebnis kommen, als festzustellen, daß General Lothar v. Trothas »Aufruf an das Volk der Herero« vom 2. Oktober 1904 kein »Völkervernichtungsbefehl« war. Vielmehr handelte es sich um eine dem pathetischen Vokabular der Jahrhundertwende entsprechende psychologisch-propagandistische Erklärung eines sich der Notlage seiner eigenen Truppe bewußten verantwortungsvollen Offiziers, der sein eigentliches militärisches Ziel am Waterberg verfehlt hatte. Zu ungerechtfertigten Gewaltanwendungen, zu Exzessen en gros oder gar zu einem »Völkermord« ist es von deutscher Seite her nicht gekommen.

 

Diese Grundsatzrede von Dr. Claus Nordbruch basiert auf dessen im Januar 2002 erscheinenden Bildband Der Hererokrieg, der auf Wunsch mit Widmung direkt beim Autor bestellt werden kann: geistesfreiheit@hotmail.com

 

 



[1] Die Welt v. 8. Sep. 2001.

[2] Maximilian Bayer: Mit dem Hauptquartier in Südwestafrika. 2. Aufl. - Leipzig: Spamer 1909, S. 2.

[3] Peter Rossa: Aus Hauptmann Frankes Zug. - in: Friedrich von Dincklage-Campe: Deutsche Reiter in Südwest. - Berlin: Deutsches Verlagshaus [ca. 1907], S. 103.

[4] Helene von Falkenhausen: Ansiedlerschicksale. Elf Jahre in Deutsch-Südwestafrika 1893-1904. 3. Aufl. - Berlin: Reimer 1906, S. 66.

[5] Berthold von Deimling: Südwestafrika. Land und Leute - Unsere Kämpfe - Wert der Kolonie. - Berlin: Eisenschmidt 1906,  S. 22. Selbst in seinen 1930 erschienenen Lebenserinnerungen findet sich das gleiche Zitat.

Nachfragen bei alten Südwestern haben ergeben, daß die Bezeichnung »Tiger« offensichtlich gedankenlos aus dem Afrikaansen übersetzt bzw. übernommen worden ist. Dort bedeutet das phonetisch fast gleichlautende Wort »tier« Leopard.

[6] Anonym (Von einem Offizier der Schutztruppe): Meine Kriegs-Erlebnisse in Deutsch-Süd-West-Afrika. 140. Tsd. - Minden: Köhler 1907, S. 87, 98 und 91.

[7] Vgl. Brigitte Lau: Uncertain certainities: The Herero-German war of 1904. - in: Mibagus. Journal of Free Thought and Culture, No 2, Apr. 1989, S. 5.

[8] Horst Drechsler: Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. 2. Aufl. - Berlin: Akademie 1985, S. 14.

[9] Wolfgang Mayer (u.a.): Schwarz-Weiß-Rot in Afrika. Die deutschen Kolonien 1883-1918. - Puchheim: Idea 1985, S. 183.

[10] Yves Ternon: Der verbrecherische Staat. Völkermord im 20. Jahrhundert. – Hamburg: Hamburger Edition 1996, S. 257.

Daß Trotha die Proklamation bereits am 12.12.1904 auf Drängen des Reichskanzlers und auf Veranlassung des Kaisers zurücknehmen mußte, bestätigt mitnichten »den völkerrechtswidrigen Tenor« der Erklärung, wie man vielleicht voreilig annehmen könnte. Man war in den höchsten Kreisen der Regierung nicht etwa »zur Einsicht« gekommen und teilte nun plötzlich die in einflußreichen Medien propagierte Auffassung von dem »menschenrechtsverletzenden Charakter« des Aufrufs. Die Rücknahme des Aufrufs deutet auf nicht weniger hin, daß man auch damals schon an den Schalthebeln der Politik kein Rückgrat besessen hatte, um einer veröffentlichten Meinung standhalten zu können oder aber arroganterweise glaubte, Geschehnisse aus einer Entfernung von 10.000 km besser beurteilen zu können als die direkt im Geschehen Stehenden.

[11] Olga Levinson: Aus der Geschichte Südwestafrikas. - in: Allgemeine Zeitung v. 21.7.1961, S. 4.

[12] Olga Levinson: Der Wahrheit die Ehre. - in: Allgemeine Zeitung v. 2.8.1961, S. 4.

[13] Karla Poewe: The Namibian Herero. A history of their psychosocial disintegration and survival. - Lewiston/Queenston: Edwin Mellen 1985,  S. 65.

[14] Zitiert nach Walter Rahn: Sanitätsdienst der Schutztruppe für Südwestafrika während der Aufstände 1904-1907 und der Kalahari-Expedition 1908,  op. cit., S. 83. Unterschiedlich dazu Gerhard Pool: Samuel Maharero, op. cit., S. 293.

[15] Zentrales Staatsarchiv Potsdam. Bestand: RKA, Nr. 2089, Bl. 7. Zitiert nach Gunter Spraul: Der “Völkermord” an den Herero. - in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, H 39/1988, S. 728f.

[16] Horst Drechsler: Aufstände in Südwestafrika, op. cit., S. 81.

[17] Gerd Bedszent: Terror und Enteignung. - in: junge Welt v. 13.03.1998.

[18] Paul Harrland: Zwei Wochen aus dem Tagebuche eines Gefreiten bei der Kolonne. - in: Deutsche Reiter, S. 288ff.

[19] Berthold von Deimling: Südwestafrika, op. cit., S. 13. Vgl. auch Berthold von Deimling: Aus der alten in die neue Zeit. Lebenserinnerungen. - Berlin: Ullstein 1930, S. 69.

[20] Maximilian Bayer: Mit dem Hauptquartier in Südwestafrika, op. cit., S. 164.

[21] In der Deutsch-Südwestafrikanischen Zeitung vom 6.7.1904, also noch lange vor der Schlacht am Waterberg, war bereits zu lesen, daß die am Waterberg sitzenden Herero sehr unter ansteckenden Krankheiten litten. Die deutschen Ärzte befürchteten ein Übergreifen der Epidemien auf die deutschen Truppe. Es mußte »von sanitärer Seite alles nur mögliche geschehen, um der in heftigem Masse um sich greifenden Seuche nach Kräften Einhalt zu tun. Doch liegt es an den äusserst ungünstigen Wasserverhältnissen, dass dies bisher nur bis zu einem gewissen Grade erreicht ist.«

[22] Bereits im November 1904 waren nicht weniger als 302 Soldaten durch Krankheit kampf- und einsatzunfähig. Dieser fürchterliche Zustand konnte unter den dargelegten Umständen nicht innerhalb weniger Tage oder Wochen behoben werden. Um sich das katastrophale Ausmaß vorstellen zu können, muß man sich vor Augen halten, daß am Ende des Krieges mehr deutsche Soldaten an Krankheiten gestorben als während der Kämpfe gefallen waren!

[23] Johannes C. Seybold: Der Hererokrieg in Deutsch-Südwestafrika. - Maschinenschriftliche Magisterarbeit an der Universität Wien 1991, S. 101.

[24] Wie sich einst die Hunnen unter König Etzel einen Namen gemacht hätten, der sie heute noch gewaltig erscheinen ließe, so sollten nach Auffassung Wilhelm II. auch die deutschen Soldaten in China der Geschichte einen ewig währenden Stempel einbrennen.

Einen entgegengesetzten Interpretationsansatz versucht Heinrich Wendig: Er meint mit Hinweis auf Walter Krämer & Götz Trenkler: Das neue Lexikon der populären Irrtümer. 555 weitere Vorurteile, Mißverständnisse und Denkfehler. - Frankfurt/M: Eichborn 1998, daß »Wilhelm seine Soldaten vor den Boxern warnen wollte und daß diese, nicht die Deutschen, als Pardon-Verweigerer betrachtet werden müssen.« (Heinrich Wendig: Kaiser Wilhelm II. falsch zitiert. - in: Richtigstellungen zur Zeitgeschichte, Heft 13/2000, S. 7.)

[25] Vgl. Gert Sudholt: Die deutsche Eingeborenenpolitik in Südwestafrika. – Hildesheim: Olms 1975, S. 189.

[26] Gunter Spraul: Der »Völkermord« an den Herero, op. cit., S. 726.

[27] Befehle zur »Vernichtung« des Feindes waren zur damaligen Zeit nichts ungewöhnliches - auch nicht in der Geschichte der Herero: Als 1880 die Hottentotten dem alten Oberhäuptling Maharero 1500 Ochsen stahlen, die bereits für seine eigene Beisetzung ausgesucht worden waren, ordnete der oberste Herero »die rücksichtslose Ausrottung aller Oorlam und Nama in Okahandja und anderen Hererogebieten« an. Dieser Befehl führte zu einer Welle exzessiver Gewalt, die schließlich in einen zehnjährigen Krieg mit den Nama unter Jan Jonker ausarten sollte.

Auch die von Trotha angewandte Methode, den Feind des Landes zu verweisen (zu vertreiben), war nichts Außergewöhnliches: Nur drei, vier Jahre zuvor wurden während des Burenkrieges - mit Billigung des englischen Parlaments! - Tausende burischer Frauen und Kinder verbannt oder in Konzentrationslager zusammengetrieben. Und dies nachdem der konventionelle Krieg für die Briten bereits gewonnen war. (Vgl. Claus Nordbruch: Die Europäischen Freiwilligen im Anglo-Burenkrieg 1899-1902, op. cit., S. 66f.)

[28] Generalstabswerk, S. 189.

[29] Zitiert nach Otto von Weber: Geschichte des Schutzgebietes Deutsch-Südwest-Afrika, 2. Aufl. – Windhuk: S.W.A. Wissenschaftliochen Gesellschaft 1979 , S. 161.

[30] Gert Sudholt: Die deutsche Eingeborenenpolitik in Südwestafrika, op. cit., S. 184.

Zu der gleichen Erkenntnis kommt auch Karla Poewe: »The use of the word ›vernichten‹ which unknowledgeable people translate as extermination, in fact, meant, in the usage of the times, breaking of military, national, or economic resistance.« (Karla Poewe: The Namibian Herero, op. cit., S. 60.)

[31] Abschrift aus Trothas Tagebuch zitiert nach Gerhard Pool: Samuel Maharero, op. cit., S. 268.

[32] Vgl. Paul Rohrbach: Aus Südwest-Afrikas schweren Tagen, op. cit., S. 167.

(In seinem Buch Deutsche Kolonialwirtschaft schreibt Rohrbach auf Seite 342, daß das Lager »Raum für die Unterbringung von 8.000 Mann bot«.)

 


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